Ostsucht oder die Suche nach der verlorenen Hälfte
Foto: © Sebastian Schiller - Es scheint sie tatsächlich zu geben. Das Kunst Haus Wien plädierte im Rahmen einer kürzlich eröffneten Ausstellung dafür, eine aktuelle E-Mail der Freunde der Staatsbibliothek zu Berlin wirbt anlässlich einer mehrfach ausgezeichneten Ausstellung darum und schließlich überspitzt es zuletzt Tilmann Krause im Feuilleton der WELT. Der Literaturkritiker schreibt von einer Sucht. Wie eng liegen nun Sehnsucht, davon ist in Wien und Berlin die Rede, und Krauses Sucht beinander? Versuch einer Replik.
In Zeiten Joseph von Eichendorffs war mehr Sehnsucht, resümiert der Pater Anselm Grün in seinem "Buch der Sehnsucht". Zunehmend wurde Sehnsucht dann jedoch als Flucht vor der Wirklichkeit verstanden, als etwas Krankhaftes, Unerfüllbares. Das Wort "Sucht" alleine komme von "siech sein, krank sein"; also ein noch ausgeprägteres krankhaftes Verlangen, gar eine krankhafte Abhängigkeit. Erst später sei der Begriff der Sehnsucht dann wieder im romantischen Sinne von Eichendorff verwendet worden.
Wenn also Krause von der in den 1980er Jahren herrschenden "Ostsucht" spricht, so meint er zunächst das ausgiebige Erkunden, das gründliche Erforschen der damaligen DDR durch Westdeutsche ("Wessis") sowie Bewohner von Berlin (West). Das fand zunehmend jenseits der obligatorischen Pflichtbesuche bei Verwandten statt und erstreckte sich zunächst auf Ost-Berlin; bald darüber hinaus.
Auch ich gehörte zu denjenigen, die sich auf den Weg machten. Bei mir war es jedoch umgekehrt. Die Niederlausitz, damals im Bezirk Cottbus, kannte ich bereits seit dem Grundlagenvertrag 1972 durch zahlreiche Verwandtenbesuche. Nun folgte die Hauptstadt der DDR. Mit meiner ersten Spiegelreflexkamera ausgestattet, marschierte ich in der Friedrichstraße los. Später folgte ein Bericht über meine Eindrücke in unserer damaligen Schülerzeitung. Nachhaltig bemerkenswert befand ich ein Spruchband mit der Aufschrift "Für ein höheres Niveau der kommunistischen Erziehung der Jugend". Die rote Farbe des Bandes passte nicht zu dem alten Haus, an dem es hing. Die Fotografien vom Oktober 1981 geben heute noch Zeugnis.
Den jüngst verstorbenen Historiker Arnulf Baring zog es ebenso wie meinen Vater in den anderen Teil Deutschlands. Exkursionen nannten sich diese Ausflüge, die meist wegen des erforderlichen Visums nur einen Tag dauerten. Beide leiteten sie Exkursionen, kannten sich gut, sind jedoch nicht gemeinsam, sondern jeweils mit ihren eigenen Gruppen gereist.
War es nun eine Sucht? Eine Sehnsucht? "Nie war die DDR für Wessis so sexy wie in den Achtzigern", schreibt Krause. Nein, das war sie nicht. Auch nicht davor und nicht danach. Es war ein in Teilen unbekanntes Land unmittelbar vor der Haustür, mit der gleichen Sprache und Geschichte. Die persönliche Neugierde war trotz oder gerade wegen des jugendlichen Alters groß, vielleicht schwang ein wenig Nostalgie (wonach?) mit oder sogar etwas Geheimnisvolles; wie es sogenannte "Lost Places" heute noch ausstrahlen. Krause meint aber eben auch die Suche nach der verlorenen zweiten Hälfte Deutschlands, womit er wohl recht haben dürfte.
Dennoch war es kein Sucht. Sie hätte etwas Krankhaftes haben müssen, was sie nicht hatte. Vielmehr hatte es etwas Beruhigendes. Die Erkenntnis nämlich, wie wichtig Bewegungsfreiheit ist und wie gut die Lebensverhältnisse im freien Teil Deutschlands waren. Unmittelbar mit dem Mauerfall bin ich dann jede Woche gereist, um beim Wiederaufbau zu helfen. Bis heute zeige ich Besuchern lieber den ehemaligen Ost- als den West-Teil von Berlin. Die Suche ist beendet, die Neugierde ist geblieben.
In Zeiten Joseph von Eichendorffs war mehr Sehnsucht, resümiert der Pater Anselm Grün in seinem "Buch der Sehnsucht". Zunehmend wurde Sehnsucht dann jedoch als Flucht vor der Wirklichkeit verstanden, als etwas Krankhaftes, Unerfüllbares. Das Wort "Sucht" alleine komme von "siech sein, krank sein"; also ein noch ausgeprägteres krankhaftes Verlangen, gar eine krankhafte Abhängigkeit. Erst später sei der Begriff der Sehnsucht dann wieder im romantischen Sinne von Eichendorff verwendet worden.
Wenn also Krause von der in den 1980er Jahren herrschenden "Ostsucht" spricht, so meint er zunächst das ausgiebige Erkunden, das gründliche Erforschen der damaligen DDR durch Westdeutsche ("Wessis") sowie Bewohner von Berlin (West). Das fand zunehmend jenseits der obligatorischen Pflichtbesuche bei Verwandten statt und erstreckte sich zunächst auf Ost-Berlin; bald darüber hinaus.
Auch ich gehörte zu denjenigen, die sich auf den Weg machten. Bei mir war es jedoch umgekehrt. Die Niederlausitz, damals im Bezirk Cottbus, kannte ich bereits seit dem Grundlagenvertrag 1972 durch zahlreiche Verwandtenbesuche. Nun folgte die Hauptstadt der DDR. Mit meiner ersten Spiegelreflexkamera ausgestattet, marschierte ich in der Friedrichstraße los. Später folgte ein Bericht über meine Eindrücke in unserer damaligen Schülerzeitung. Nachhaltig bemerkenswert befand ich ein Spruchband mit der Aufschrift "Für ein höheres Niveau der kommunistischen Erziehung der Jugend". Die rote Farbe des Bandes passte nicht zu dem alten Haus, an dem es hing. Die Fotografien vom Oktober 1981 geben heute noch Zeugnis.
Den jüngst verstorbenen Historiker Arnulf Baring zog es ebenso wie meinen Vater in den anderen Teil Deutschlands. Exkursionen nannten sich diese Ausflüge, die meist wegen des erforderlichen Visums nur einen Tag dauerten. Beide leiteten sie Exkursionen, kannten sich gut, sind jedoch nicht gemeinsam, sondern jeweils mit ihren eigenen Gruppen gereist.
War es nun eine Sucht? Eine Sehnsucht? "Nie war die DDR für Wessis so sexy wie in den Achtzigern", schreibt Krause. Nein, das war sie nicht. Auch nicht davor und nicht danach. Es war ein in Teilen unbekanntes Land unmittelbar vor der Haustür, mit der gleichen Sprache und Geschichte. Die persönliche Neugierde war trotz oder gerade wegen des jugendlichen Alters groß, vielleicht schwang ein wenig Nostalgie (wonach?) mit oder sogar etwas Geheimnisvolles; wie es sogenannte "Lost Places" heute noch ausstrahlen. Krause meint aber eben auch die Suche nach der verlorenen zweiten Hälfte Deutschlands, womit er wohl recht haben dürfte.
Dennoch war es kein Sucht. Sie hätte etwas Krankhaftes haben müssen, was sie nicht hatte. Vielmehr hatte es etwas Beruhigendes. Die Erkenntnis nämlich, wie wichtig Bewegungsfreiheit ist und wie gut die Lebensverhältnisse im freien Teil Deutschlands waren. Unmittelbar mit dem Mauerfall bin ich dann jede Woche gereist, um beim Wiederaufbau zu helfen. Bis heute zeige ich Besuchern lieber den ehemaligen Ost- als den West-Teil von Berlin. Die Suche ist beendet, die Neugierde ist geblieben.